5

 

„Hier ist es. Fahr hinter dem Stoppschild links hoch“, sagte Nikolai vom Rücksitz eines schwarzen Geländewagens des Ordens aus. Er war damit beschäftigt, die Waffen nachzuladen, die er und die beiden neuen Rekruten des Ordens, die ihn heute Nacht begleiteten, im Osten der Stadt gewinnbringend eingesetzt hatten. Die Kugeln waren eine Spezialanfertigung und seine Lieblingsmunition gegen die Rogues - maximale Durchschlagkraft und gefüllt mit Titanpulver. Ein Kuss dieses Metalls bedeutete für die blutsüchtigen Stammesvampire den sicheren Tod. Niko knallte das Magazin in die frisierte Beretta 92FS, die er in eine Automatik umgebaut hatte, und schob sie in das Halfter unter seinem Mantel.

„Park hinter diesem Kleinlaster da“, wies er den Krieger an, der am Steuer saß. Dieser Teil von Revere war mit Wohnhäusern und heruntergekommenen Geschäften dicht bebaut. Hier in den Außenbezirken von Boston, wo der Chelsea River besonders ölig war, drängten sich viel zu viele Bewohner zusammen.

„Wir gehen den Rest des Weges zu Fuß. Lasst uns schön still und leise reingehen, damit wir uns dort gründlich umschauen können.“

„In Ordnung.“ Brock, ein junger schwarzer Hüne von einem Krieger, den sie in Detroit rekrutiert hatten und der am Steuer genauso geschickt war wie bei den Damen, fuhr den Wagen links an den verschneiten Bordstein und stellte den Motor ab.

Neben Brock auf dem Beifahrersitz drehte sich Nikos anderer Jungrekrut um und streckte die Hand nach der frisch geladenen Waffe aus. Kades wölfisch silberne Augen glänzten immer noch von der Aktion früher am Abend, sein schwarzes Haar war stachelig und nass vom geschmolzenen Schnee. „Denkst du, wir finden dort was?“

Niko grinste. „Das will ich verdammt noch mal hoffen.“ Er reichte den beiden Pistolen und frische Magazine, zog dann ein paar Schalldämpfer aus dem ledernen Beutel, der neben seinen Füßen auf dem Boden lag, und drückte sie den anderen mit einem klatschenden Geräusch in die Hände. Als Brock fragend eine dunkle Augenbraue hob, meinte Niko: „Ich bin ja schwer dafür, ein Rudel Rogues mit ein paar Runden aus meiner Neunmillimeter zu grillen, aber deshalb brauchen wir doch die Nachbarn nicht aufzuscheuchen.“

„Nö“, fügte Kade hinzu und ließ die Spitzen seiner perlweißen Fangzähne aufblitzen. „Soll ja keiner behaupten können, dass wir unhöfliche Gesellen sind.“

Nikolai nahm sich den Rest seiner Sachen und verschloss den Beutel. „Also los, Jungs. Lasst uns nach Crimson schnüffeln.“

Sie stiegen aus dem Geländewagen und gingen zu Fuß um das Wohngebiet herum. Alle drei hielten sich im Schatten, als sie sich an die Parzelle mit alten Lagerhäusern heranpirschten, zu der Nikos Vermutung sie geführt hatte.

Von außen wirkte das Gebäude extrem heruntergekommen - ein Schandfleck aus Beton, Holz und Glas, typische Industriearchitektur aus den Siebzigern. Stahlpfosten, die einst zu einem Maschendrahtzaun gehört haben mussten, ragten in diversen Winkeln aus dem Gelände hervor, kein einziger von ihnen war noch gerade. Nicht, dass es etwas ausgemacht hätte. Der Ort hatte eine Atmosphäre von Verfall an sich, die einem das sichere Gefühl vermittelte, sich besser fernzuhalten, selbst wenn der Schnee wie jetzt so harmlos und friedlich aus dem Nachthimmel fiel, als stünde man mitten in einer Schneekugel.

Niko und seine Jungs betraten die gekieste Einfahrt der Parzelle, ihre Schritte gedämpft vom frisch gefallenen Schnee. Als sie sich dem Gebäude näherten, entdeckte Niko auf dem Boden einen schwarzen Aschefleck. Die große, unregelmäßig geformte Fläche brodelte und zischte noch, die zarten weißen Schneeflocken, die darauf fielen, schmolzen sofort. Er machte eine Geste in Richtung der sterblichen Überreste, die sich da gerade zersetzten, als Brock und Kade näher kamen.

„Jemand hat hier einen Rogue eingeäschert“, sagte er zu ihnen, die Stimme ein leises Flüstern. „Ist noch frisch.“

Gideon hatte nicht erwähnt, dass er ihnen Verstärkung geschickt hatte, also waren sie besser vorsichtig. Wer weiß, was sie noch finden würden. Rogues waren wilde Bestien, und es war durchaus schon vorgekommen, dass sie einander wegen Revierstreitigkeiten oder kleinerer Meinungsverschiedenheiten umbrachten. Dem Orden war das ganz recht. Es sparte den Kriegern Zeit und Mühe, wenn die blutsüchtigen Bastarde den Kopf verloren und sich ausnahmsweise gegenseitig umlegten.

Beim Eingang des Gebäudes war einem weiteren Blutsauger eine tödliche Dosis Titan verpasst worden. Im gallertartigen Schleim der geschmolzenen Zellen lag ein riesiges Vorhängeschloss, und Brock deutete auf die verbeulte Stahltür. Sie stand leicht offen und gab einem dünnen Spalt Dunkelheit frei.

Kade warf Niko einen fragenden Blick zu und wartete auf das Signal, loszustürmen.

Nikolai schüttelte den Kopf, er war sich nicht sicher.

Etwas stimmte hier nicht.

Von irgendwo tief im Gebäude hörte er ein schwaches Dröhnen, das er sogar als leichtes Vibrieren in seinen Stiefelsohlen spüren konnte. In der kühlen Nachtluft fing er plötzlich den süßlichen Hauch eines widerlichen, chemischen Geruchs auf.

War das etwa … Kerosin?

Das Dröhnen wurde tiefer und verstärkte sich wie aufkommendes Donnergrollen.

„Was zum Teufel ist das?“, zischte Kade.

Niko roch den stechenden Geruch von heißem Metall.

„Oh, Scheiße.“ Er sah zu den beiden anderen Kriegern hinüber. „Los! Abhauen! Schnell! Los, los, los!“

Sie fielen alle in einen schnellen Sprint, flohen über das Grundstück, während das Dröhnen hinter ihnen zu einem gewaltigen Aufbrüllen anschwoll. Man hörte einen tiefen Schlag -scharf, gewalttätig -, als tief in den Eingeweiden des alten Gebäudes die Explosion ausbrach. Von der Druckwelle zerbarsten die Fensterscheiben der oberen Stockwerke, Stichflammen und dicker, schwarzer Rauch bahnten sich ihren Weg hinaus.

Während die drei Männer staunend zusahen, flog mit einem Knall die Haupteingangstür des Gebäudes aus den Angeln.

Nicht von der Explosion, sondern gelenkt vom Willen einer einzelnen Person.

Ein orangefarbener Feuerball umriss die schwarze Silhouette von hinten, erleuchtete die breiten Schultern und den lässigen, langbeinigen Gang eines Kriegers. Als er aus dem Inferno schlenderte, bauschten sich hinter ihm die Schöße seines offenen schwarzen Ledermantels wie ein Umhang, der selbst eines Prinzen der Dunkelheit würdig gewesen wäre.

„Da soll mich doch …“, murmelte Brock. „Tegan.“

Niko schüttelte den Kopf und lachte in sich hinein angesichts der unverhohlenen Ehrfurcht in den Augen seiner beiden Neulinge. Nicht dass sie unverdient war. Tegan war so ziemlich der eindrucksvollste Krieger von allen und würde mit dieser Show in die Legenden eingehen, da war er sich sicher. Hinter Tegan stand das Lagerhaus nun in hellen Flammen, strahlte Hitze ab wie ein glühender Höllenschlund. Es war ein wirklich unglaublicher Anblick, von einer brüllenden, gewalttätigen Schönheit.

Aber wenn man sich Tegans ausdruckslose Miene ansah, wie er sich ihnen näherte, konnte man meinen, er wäre nur mal eben zum Pinkeln gegangen.

„Alles in Ordnung da drin, T?“, witzelte Niko. „Brauchst du Verstärkung oder so? Ein paar Würstchen vielleicht, damit du was zum Grillen hast über deinem Lagerfeuerchen?“

„Ich hab alles im Griff.“

„Das will ich meinen“, erwiderte Niko, der mit den beiden anderen Kriegern den Funkenflug aus dem brennenden Gebäude betrachtete. Die feurigen Schwaden stiegen hoch in den Nachthimmel hinauf.

Tegan ging mit seiner üblichen Coolness an ihnen vorbei, ohne ein Wort der Entschuldigung oder Erklärung. Aber so war es immer mit ihm. Er war der Geist, den man nie kommen sah, der Tod, der einem schon im Nacken saß, noch bevor man überhaupt registrierte, dass man sich im Fadenkreuz befand.

Im Kampf war er immer extrem gründlich, aber diese Vernichtungsaktion, die er dem Crimson-Labor hatte angedeihen lassen, übertraf alles, was Niko den Krieger je hatte tun sehen.

Nach den Informationen, die er über diesen Ort hatte, musste er etwa mit einem halben Dutzend Rogues bemannt gewesen sein - Tegan hatte sie alle erledigt, und von dem Gebäude würden in ein paar Stunden nur noch schwelende Trümmer übrig sein.

Wenn Niko es nicht besser wüsste, hätte er fast angenommen, dass es da um eine persönliche Abrechnung ging.

„Freut mich, dass wir dir helfen konnten“, rief er Tegan hinterher und stieß einen trockenen Fluch aus.

„Verdammt, ist der Typ kaltblütig“, bemerkte Brock, als Tegan in der Dunkelheit und den wirbelnden Schneeflocken verschwand.

„Er ist aus Eis.“ Niko war heilfroh, dass der Gen-Eins-Krieger auf ihrer Seite kämpfte. „Los, hauen wir ab, bevor es hier gleich vor Menschen wimmelt.“

 

Tegan ging zu Fuß in die Innenstadt zurück. Hinter ihm jaulten in einiger Entfernung schon die Sirenen. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass unten beim Chelsea River ein heller Feuerschein den Nachthimmel erhellte. Freudlos grinste er in die Dunkelheit. Die Feuerwehr von Revere konnte noch so viel Wasser auf die alte Lagerhalle pumpen, sie war nicht zu retten. Tegan hatte sichergestellt, dass nichts übrig bleiben würde, wenn der Rauch sich einmal verzog. Er hatte diesen Ort abfackeln wollen, mit einer Wildheit, die er seit Jahren nicht empfunden hatte.

Scheiße, es war mehr als nur Jahre her, dass er diese wilde Zerstörungswut in sich gespürt hatte, die heute Nacht in seinen Venen brannte. Jahrhunderte war es her.

Und die Krönung war, dass es sich verdammt gut angefühlt hatte.

Tegan ballte und dehnte die Hände in der kalten, winterlichen Abendluft. Er konnte immer noch den Schmerz spüren, den er den Rogues verursacht hatte - den wunderbaren Schrecken, der jedem Einzelnen der Rogues ins Herz gefahren war, die er im Crimson-Labor getötet hatte. Er hatte sich an ihrer Todesqual geweidet, als sich das Titan durch ihren Blutstrom fraß und sie von innen heraus zum Kochen brachte.

Während er vor langer Zeit gelernt hatte, seine eigenen Gefühle von sich abzuspalten, hatte er keine Kontrolle über die übersinnliche Gabe, die er besaß. Wie alle Stammesvampire hatte er zusätzlich zu den vampirischen Eigenschaften von der väterlichen Seite auch die individuelle übersinnliche Fähigkeit der Menschenfrau geerbt, die ihn geboren hatte. Für Tegan bedeutete das, dass er nur jemanden zu streifen brauchte - ob Mensch oder Vampir -, und schon wusste er, was der andere empfand. Er musste nur jemanden berühren, und schon absorbierte er dessen Gefühle. Von dieser Verbindung nährte er sich wie ein Blutegel am Blut seines Wirtes.

Seine Gabe war ihm das ganze Leben sowohl Waffe als auch Fluch gewesen; jetzt war sie sein privates Laster, dem er so selten frönte wie irgend möglich. Aber wenn er es tat, dann mit absichtsvoller, sadistischer Freude. Es war besser, Genuss aus dem Schmerz und der Angst von anderen zu ziehen, als zuzulassen, dass seine eigenen Gefühle in ihm aufstiegen und ihn beherrschten, so wie sie es früher immer getan hatten.

Aber heute Abend hatte er den Funken einer inneren Befriedigung gespürt, als er den Rogues und den paar Lakaien den Tod brachte, die offenbar rekrutiert worden waren, um die Produktion von Crimson fortzusetzen. Als keiner von ihnen mehr am Leben war, der Betonboden des alten Lagerhauses rot von Blut und glitschig von dem stinkenden Matsch der Rogues, die er mit Klingen und Kugeln ins Jenseits befördert hatte, hatte Tegan noch mehr gebraucht.

Aus Gründen, über die er selbst jetzt nicht weiter nachdenken wollte, hatte er inmitten der Überreste seines Gemetzels gestanden und nichts weniger gewollt als die totale Zerstörung.

Feuer, Asche und glimmende, rauchende Trümmer. Er hatte das Crimson-Labor dem Erdboden gleichmachen wollen, sodass von ihm nur noch ein schwarzer Aschefleck auf der leeren Parzelle übrig bleiben würde.

Ob er es nun zugeben wollte oder nicht, wusste er doch, dass diese Zerstörungswut etwas mit Elise zu tun hatte. Ihr Gesicht war es gewesen, das er vor sich gesehen hatte, als er das Gebäude in Brand setzte. Der Gedanke an ihren Kummer war es gewesen, der ihn dazu gebracht hatte, den Tod jedes einzelnen Rogue besonders zu genießen.

Tegan rammte die Fäuste in die Manteltaschen, stemmte sich gegen den Wind und nahm eine Abkürzung über eine Hintergasse in South End. Wohin er ging, wusste er nicht genau, obwohl er das eigentlich hätte wissen sollen. Denn er erkannte Elises erbärmliches Viertel, noch bevor er in die Straße einbog, die direkt auf ihren Block zuführte.

Immer noch konnte Tegan nicht begreifen, warum sie in solch armseligen Umständen hauste. Als Witwe eines hochrangigen Regierungsbeamten des Vampirvolkes musste Elise doch mehr als nur finanziell abgesichert sein. Sie hätte sich die exklusivsten Vampirreservate aussuchen können, ohne dass es ihr an etwas gemangelt hätte, unabhängig davon, ob sie sich einen neuen Gefährten erwählte oder nicht. Dass sie sich stattdessen dafür entschieden hatte, ihr altes Leben aufzugeben, um unter menschlichem Abschaum zu leben, überraschte ihn. Als er sie vor etwa vier Monaten kennengelernt hatte, war sie ihm so behütet und zerbrechlich vorgekommen. Sie heute Abend so zu sehen, bespritzt mit Lakaienblut und bewaffnet wie ein Stammeskrieger, hatte ihm einen Schock versetzt.

Aber ungeachtet ihrer Todesverachtung und ihrer Entschlossenheit war Tegan nicht entgangen, dass Elise erschöpft war. Sie war müde und ausgelaugt bis auf die Knochen gewesen, auf eine Art, die tiefer zu gehen schien als die normale körperliche Müdigkeit nach einer größeren Anstrengung. Und das war der eigentliche Grund dafür, dass er jetzt schon wieder vor ihrer Wohnung stand.

Er wollte nicht zur Haustür hinein. Es war spät, wahrscheinlich schlief sie schon. Und solange es draußen dunkel war, war seine erste Priorität der Orden.

Eigentlich hätte er einfach weitergehen sollen. Aber nun schlüpfte Tegan zwischen Elises Mietshaus und dem Nachbargebäude zur Rückseite des Hauses hindurch. Von außen waren die Fenster ihrer Erdgeschosswohnung pechschwarz, aber die akustischen Dämmplatten aus Schaumstoff ließen vermutlich auch gar kein Licht durch. Trotz der Schallisolierung konnte Tegan die tiefen Bässe ihrer Stereoanlage hören, und den Fernseher, der mit ihr um die Wette plärrte. Er fuhr sich mit der Hand durch sein schneefeuchtes Haar, dann wirbelte er herum und betrat mit drei langen Schritten den schmalen Hinterhof ihres Gebäudes.

Vergiss sie einfach und geh weiter.

Klar, das sollte er tun. Sich diese wunderschöne Frau mit dem gebrochenen Herzen und den offensichtlichen Selbstmordabsichten aus dem Kopf schlagen und einfach weitergehen.

Bloß …

Er schlich sich näher an das Gebäude heran und starrte finster auf die verbarrikadierten Fenster. Alles, was er hören konnte, war Musik und der Lärm des Fernsehers, aber genau das versetzte seinen Kriegerinstinkt in Alarmbereitschaft.

Das, und der leise Blutgeruch, der aus der Wohnung kam.

Elises Blut. Seine Nase registrierte eine subtile Süße von Heidekraut und Rosen, die nur der Stammesgefährtin in der Wohnung gehören konnte. Sie blutete - dem Geruch nach nicht sehr stark, aber durch Ziegel, Glas und fünf Zentimeter Schaumstoff hindurch war das unmöglich zu sagen.

Mit seinen mentalen Kräften öffnete Tegan die Fensterverriegelung - schon das zweite Mal, dass er heute Abend in ihre Wohnung einbrach - und hob die schwere Schaumstoffplatte von außen an. Ein Fliegengitter gab es nicht, somit war es nur eine Frage von Sekunden, die Dämmung zur Seite zu schieben und hineinzuspähen.

Im Zimmer waren die Lichter aus, aber sein Sehvermögen war im Dunklen sowieso am schärfsten. Elise war da, sie lag auf dem Futon zusammengerollt wie ein Embryo und trug immer noch ihren weißen Frotteebademantel, den sie vor einigen Stunden nach dem Duschen angezogen hatte. Sie hatte die Arme wie einen schützenden Käfig um den Kopf geschlungen, ihr kurzer blonder Schopf war vom Schlaf völlig verstrubbelt und durcheinander.

Sie rührte sich nicht einmal, als sich Tegan über die Fensterbank ins Zimmer schwang, aber er bewegte sich völlig geräuschlos und der Lärm in ihrer Wohnung war ohrenbetäubend. Mit einem gedanklichen Befehl stellte Tegan Stereoanlage und Fernseher stumm - und da schoss sie plötzlich vom Bett auf, noch nicht vollständig wach, aber sofort in einem Zustand desorientierter Panik.

„Es ist okay, Elise. Alles in Ordnung.“

Sie schien ihn gar nicht zu hören. Ihre lavendelfarbenen Augen waren weit aufgerissen, irrten ziellos umher, und das nicht nur, weil es in der Wohnung stockdunkel war. Sie stöhnte, als hätte sie Schmerzen. Ungelenk rollte sie sich vom Futon herunter, ihre Hände suchten hektisch nach der Fernbedienung, die neben ihr auf dem Boden lag. Sie packte das Gerät und begann, panisch die Knöpfe zu drücken. „Los, geh an, verdammt, geh doch an!“

„Elise.“ Tegan ging zu ihr hinüber und kniete sich neben ihr auf den Boden. Jetzt roch er mehr Blut an ihr, und als er ihr Kinn mit seiner Hand anhob, sah er, dass sie Nasenbluten hatte.

Scharlachrote Tröpfchen beschmutzten den hellen weißen Kragen ihres Morgenmantels, einige frisch, einige von einem früheren Anfall. „Herr im Himmel …“

„Geh doch endlich an!“, heulte sie auf. Dann sah sie zum Fenster hinüber und bemerkte, dass es offen stand, und die lose Schaumstoffplatte, die nur noch an einer Ecke hing. „Oh Gott.

Wer hat die Platte abgemacht? Wer macht denn so etwas?!“

Mühsam kam sie auf die Füße und eilte zum Fenster, um das Leck zu reparieren, knallte das Fenster zu und drehte den Riegel um. Ihre Hände glitten fahrig über den Schaumstoff, als sie versuchte, ihn wieder in seinen Platz über der Fensterscheibe hineinzuzwängen.

„Elise.“

Keine Antwort. Die Angstwellen, die der zierliche Körper unter dem weißen Frotteebademantel abstrahlte, wurden nur noch intensiver. Mit einem stöhnenden Klagelaut griff sich Elise an die Schläfen und sackte neben dem Fenster langsam zu Boden, als hätten ihre Beine unter ihr nachgegeben. Auf den Knien, zusammengekrümmt, wiegte sie sich vor und zurück.

„Mach, dass es aufhört“, flüsterte sie gebrochen. „Bitte …mach einfach, dass es … aufhört.“

Tegan näherte sich ihr mit Vorsicht, er wollte sie nicht noch mehr beunruhigen. Mit einem Fluch beugte er sich zu ihr hinunter und legte ihr behutsam die Hand auf den zierlichen Rücken, die Finger weit gespreizt, alle Sinne geöffnet, um Verbindung mit ihren Gefühlen aufzunehmen. Elises Schmerz schoss in ihn hinein wie ein mächtiger elektrischer Stromstoß.

Er spürte die weiß glühende Qual ihrer Migräne, fühlte das harte Pochen ihres Herzschlags in den Ohren, als wäre es sein eigener. Er schmeckte Magensäure auf der Zunge, seine Zähne schmerzten von der Gewalt, mit der sie ihre Zähne zusammenbiss, um die Qual zu bekämpfen, die sie so fest gepackt hatte.

Und er hörte die Stimmen.

Üble, zersetzende, bösartige Stimmen in der Luft, die sie umgab, Stimmen, die niemand hören konnte außer der medial so sensiblen Stammesgefährtin, die zusammengekrümmt vor ihm auf dem Boden kauerte.

In seinem Kopf, durch die Verbindung, die er mit Elise hielt, registrierte Tegan die wüste Streiterei eines Paares am anderen Ende des Ganges. Gegenüber wohnte ein Mann, den es nach der eigenen Tochter gelüstete. In der Wohnung über Elise jagte sich eine Drogensüchtige gerade eine Monatsrate Kindergeld in die Vene, während ihr Baby, gänzlich unbeachtet, im anderen Zimmer vor Hunger schrie.

Jeder negative Gedanke, jede zerstörerische menschliche Erfahrung in einem Umkreis, den Tegan nur vermuten konnte, schien sich direkt in Elises Kopf zu bohren, um an ihr zu hacken, zu rupfen und zu zerren wie Geier an einem Stück Aas.

Es war die Hölle auf Erden, und Elise durchlebte sie jeden einzelnen Moment, in dem sie bei Bewusstsein war. Vielleicht sogar, wenn sie schlief. Jetzt verstand er die Schalldämmung und den Lärm in ihrer Wohnung. Sie hatte versucht, den äußeren Ansturm mit anderem Lärm abzublocken - Stereoanlage, Fernseher, und selbst der MP3-Player, der in einem Kabelgewirr auf dem Küchenblock lag.

Wenn sie wirklich dachte, dass sie in dieser Menschenwelt so zurechtkommen konnte, machte sie sich etwas vor. Ganz zu schweigen von dem Wahnsinn ihres Vorhabens, sich an den Rogues und deren Lakaien zu rächen.

„Bitte“, murmelte sie, ihre leise Stimme vibrierte in seiner offenen Handfläche. „Es muss jetzt aufhören.“

Tegan brach die Verbindung ab und stieß durch die gebleckten Zähne einen Fluch aus.

Es ging nicht. Er konnte sie nicht so liegen lassen. Er sollte sie den Dunklen Häfen aushändigen. Vielleicht würde er das auch tun. Aber was sie jetzt brauchte, war Linderung ihrer Schmerzen. Nicht einmal er war kaltblütig genug, um sich untätig zurückzulehnen und sie leiden zu sehen.

„Es ist okay“, sagte er. „Entspann dich, Elise. Alles ist gut.“

Er hob sie in die Arme und trug sie zum Futon zurück. Sie war so leicht, zu leicht, dachte er. Elise war eine zierliche Frau, aber sie fühlte sich an seiner Brust so leicht an wie ein Kind.

Wann hatte sie zuletzt etwas gegessen? So nah, wie er sie hielt, konnte Tegan nicht umhin, den scharfen Winkel ihrer Wangenknochen zu bemerken, die Zerbrechlichkeit ihres Unterkiefers.

Sie brauchte Blut. Eine ordentliche Dosis roter Zellen eines Stammesvampirs würde ihr Kraft geben und die Schmerzen lindern, die ihre übersinnlichen Wahrnehmungen in ihr auslösten, doch es lag Tegan fern, sich dafür freiwillig zu melden. Elise war eine Stammesgefährtin, eine der seltenen Menschenfrauen, die mit den Mitgliedern des Stammes genetisch kompatibel waren. Sie mit seinem Blut zu nähren, würde sie in vieler Hinsicht revitalisieren, aber sein Blut in ihrem Körper würde zugleich eine unauflösliche Verbindung zwischen ihnen schaffen. Einen unwiderruflichen Bund, der für Liebespaare reserviert war, den heiligsten Schwur des Stammes. Nur der Tod konnte eine solche Verbindung lösen. Daher nahmen die wenigsten Stammesvampire diese Sache leicht oder würden gar eine solche Verpflichtung aus Mitleid eingehen.

Elise war Witwe, und die Jahre, die sie offensichtlich ohne das Blut eines Gefährten zugebracht hatte - ganz zu schweigen von dem Schaden, den sie sich jeden Tag zufügte, indem sie unter Menschen lebte -, begannen, sich bei ihr bemerkbar zu machen. Behutsam ließ Tegan sie auf die sperrige Futonmatratze hinuntergleiten.

Vorsichtig streckte er ihre schmalen Beine aus und arrangierte sie in einer, wie er hoffte, bequemen Schlafposition. Ihr Frotteebademantel klaffte vom Oberschenkel zum Brustbein, der Gürtel um ihre Hüfte hatte sich gelöst und hing lose herunter.

Er musste sich wirklich anstrengen, seine Enden unter ihr hervorzuziehen und gleichzeitig zu versuchen, den Streifen cremig weißer Haut zu ignorieren, der sich dabei seinen Blicken darbot.

Es war unmöglich, so zu tun, als bemerkte er die weiblichen Rundungen ihrer Hüfte oder die sanften Hügel ihrer kleinen, perfekten Brüste nicht. Aber es war das plötzliche Aufblitzen eines hinreißenden Oberschenkels, der Tegan vollends den Atem nahm.

Dort, auf der Innenseite ihres rechten Beins, war das Zeichen, das alle Stammesgefährtinnen irgendwo auf dem Körper trugen - ein winziges Muttermal in Form einer Träne, die über der Sichel eines zunehmenden Mondes schwebte. Elise trug ihres an der verlockendsten Stelle ihres Oberschenkels, knapp unter dem flaumigen Dreieck ihres Geschlechts.

„Oh, Scheiße.“ Tegan zuckte zurück, sofort schoss ihm Speichel in den Mund vom plötzlichen Drang, diese süße Stelle zu schmecken.

Pfoten weg, Mann, sagte er sich rau. Das ist ein paar Nummern zu groß für dich.

Jetzt bewegte er sich schnell, keuchend zischte sein Atem an den Spitzen seiner halb ausgefahrenen Fangzähne entlang, als er den Morgenmantel um ihren nackten Körper herum feststeckte.

Wieder hatte sie Nasenbluten von der Migräne. Das helle, purpurrote Rinnsal war auf der weichen, weißen Haut ihrer Wange verschmiert. Er tupfte das Blut mit dem Saum seines schwarzen T-Shirts ab und versuchte, den süßen Duft zu ignorieren, der all seine Vampirinstinkte wachrief. Ihr flatternder Puls dröhnte ihm wie Trommelschlag in den Ohren, das schnelle kleine Pochen ihrer Halsschlagader zog seinen Blick auf die graziöse Linie ihres Nackens.

Verdammt, dachte er und musste all seine mentalen Kräfte bemühen, um wegzusehen. Sein Appetit war erwacht, einfach nur, indem er neben ihr stand. Jetzt war er hungrig, sein Hunger tobend und wild, obwohl sein letzter Jagdzug noch nicht lange her war. Nicht, dass die stinkenden, pflasterlahmen Menschen, von denen er seine Nahrung bezog, sich mit der zarten Schönheit vergleichen ließen, die hier vor ihm ausgebreitet lag.

Elise wimmerte mit geschlossenen Augenlidern und stöhnte leise, immer noch hatte sie Schmerzen. In diesem Moment war sie so verletzlich, der wilden seelischen Qual, die der Ansturm übersinnlicher Wahrnehmungen in ihr auslöste, so hilflos ausgeliefert.

In diesem Moment war er alles, was sie hatte.

Tegan streckte die Hand aus und strich ihr mit den Fingern über die kühle, feuchte Stirn. Sanft drückte er seine Handfläche über ihre fest geschlossenen Augen.

„Schlaf“, sagte er zu ihr, und versetzte sie in einen leichten Trancezustand.

Als ihr Atem sich auf einen fast schon normalen Rhythmus verlangsamt hatte und die Spannung aus ihrem Körper gewichen war, lehnte sich Tegan zurück und sah ihr zu, wie sie in einen ruhigen, erholsamen Schlummer hinüberglitt.

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